Saint Hilaire versus Thomas Sumner

Astronavigation als Notfall-Backup zu nutzen, ergibt Sinn. Ein verantwortlicher Seemann wird auf langen Reisen auch in der Navigation auf eine Rückfalloption nicht verzichten wollen. Die See ist kein sicherer Ort und ein Ausfall der elektronischen Navigation würde sein Schiff ins 19. Jahrhundert zurückschicken. Daneben gibt es auch jene, die Spaß daran hätten, mal mit einem Sextanten zu navigieren, so wie die alten Seefahrer, ohne sich gleich den dafür üblichen Lernstress antun zu müssen. In diesem Fall sollte eine App oder ein Navigationsprogramm für den PC helfen.
Auf der Suche nach einer geeigneten App, findet man zahlreiche Anwendungen, die alle auf der Grundlage des Höhendifferenzverfahrens beruhen, die der französische Fregattenkapitän Saint Hilaire entwickelt hat. Auch ein Blick in die Literatur und sämtliche Beiträge im Netz deklarieren dieses Verfahren als Nonplusultra in der astronomischen Navigation. Das Verfahren gilt vielen als Synonym für Astronavigation.

Im 19. Jahrhundert erfuhr die astronomische Navigation eine Zäsur. Die alten meist algebraischen Methoden der Wissenschaftler, Mathematiker und Gelehrten wurden vom Umsichgreifen der neuen Standlinienmethode verdrängt, mit denen ein Standort grafisch unter Anwendung von Bleistift, Lineal und Zirkel direkt in der Seekarte gefunden wurde. Andererseits hätten die alten Methoden sowieso keine Chance gehabt, denn es gab keine Computer. Diese Verdrängung hat immer noch Bestand, und hat sich durch die Tatsache von 150 Jahren weltweit erfolgreicher Navigation mit Höhenverfahren von Hilaire noch gefestigt.

 

Thomas Hubbard Sumner

Die Standlinie wurde im Dezember 1837 von dem amerikanischen Handelskapitän Thomas H. Sumner erfunden. Er veröffentlichte seine Entdeckung allerdings erst einige Jahre später, im Jahr 1843 in einem Buch. Die Konstruktion einer Sumner Standlinie ist bemerkenswert einfach und soll anhand von Bild 1 erklärt werden.

Bild 1:

Nach der Beobachtung einer Gestirnshöhe, hier der Sonne, werden zwei Breiten 𝜑1 und 𝜑2 gewählt. Diese Breiten sollten die nächstliegenden ganzgradigen Breitengrade nördlich und südlich von der vermuteten Schiffsposition sein. Für diese Breiten müssen alsdann die Längen 𝜆1 und 𝜆2 für dieselbe Beobachtung, also mit den gleichen Werten von beobachteter Höhe und Deklination berechnet werden. Jede der beiden Berechnungen ist identisch mit derjenigen zur Berechnung der Chronometerlänge, war den Seeleuten also vertraut. 

Die Schnittpunkte der gewählten Breiten mit den berechneten Längen liefern zwei Punkte auf einer Seekarte und wenn diese miteinander verbunden werden, dann ist das eine Sehne am Kreisabschnitt der Höhengleiche. Diese Sehne kann aber auch nach beiden Seiten zu einer Sekante verlängert werden. Das Ergebnis ist eine Linie, auf der sich das Schiff irgendwo befinden sollte. Diese Standlinie, die im Bild mit SL gekennzeichnet ist, wurde einige Zeit nach ihrer Erfindung auch als Sumnerlinie bezeichnet. Eine zweite Beobachtung der Sonne, wenige Stunden später, lieferte dann eine zweite Standlinie. Daraus ergab sich die Position des Schiffes dort, wo sich die beiden Standlinien kreuzten.

Die Navigation mit Standlinien schlug damals gewaltig ein. Endlich war ein Weg gefunden, der es ermöglichte, Standorte auf See mit hinreichender Genauigkeit zu finden. Standorte wurden durch Zeichnen von Standlinien direkt in der Seekarte ermittelt, was sehr eindrücklich war und den Rechenaufwand in Grenzen hielt, denn Computer gab es noch nicht. In Boston USA wurde eine Kommission mit der Untersuchung dieser neuen grafischen Methode beauftragt, die zu dem Ergebnis kam, dass alles auf richtigen Grundsätzen beruht. Daraufhin wurde die Sumner Methode für die US NAVI als verbindlich erklärt.

 

Marcq Saint Hilaire

Es dauerte nicht lange, bis die Sumner Navigation auch Europa erreichte. Der Fregattenkapitän Saint Hilaire beschrieb in einem Zeitschriftenaufsatz den Gedanken, dass nachträglich entdeckte Fehler in der Höhenbestimmung durch eine zweite Linie parallel zu einer bereits gezeichneten Sumnerlinie korrigiert werden könnten. Bei dieser zweiten Linie müsste die Strecke der Parallelversetzung in Seemeilen gleich dem zu korrigierenden Höhenfehler in Bogenminuten betragen.

Bild 2

Wenig später entstand daraus die Idee für eine neue Art einer Standlinienkonstruktion. Nach Messung der Höhe der Sonne auf dem Schiff wird die Höhe der Sonne für dieselbe Sekunde der Messung für einen angenommenen Standort in der Nähe, den Gissort, berechnet. Die Höhendifferenz zwischen Berechnung und Messung wird dann als Korrekturgröße betrachtet, mit der die bisher durch den angenommenen Standort laufende Sumnerlinie parallel bzw. entlang des Azimutstrahls zu verschieben ist. Diese Verschiebung erfolgt in Richtung der Sonne, wenn die an Bord gemessene Höhe größer ist als die für den Gissort berechnete Höhe. Dieser Fall ist im Bild 2 gezeigt. Ist die an Bord gemessene Höhe kleiner, dann erfolgt die Verschiebung von der Sonne und damit auch vom Gissort weg. Bei dieser neuen Konstruktionsart berührt die Standlinie die Kreislinie der Höhengleiche nur noch und ist damit zu einer Tangente geworden. Der Schiffsstandort wird in der Regel nicht auf dem Azimutstrahl zwischen Gissort und Sonnenbildpunkt sein, sondern liegt irgendwo auf der Standlinie und somit querab vom Berührungspunkt der Tangente. Dadurch entstehen Standortabweichungen insbesondere dann, wenn der Radius der Höhengleiche klein ist, weil dann der Abstand zwischen der Standlinie SL und der Höhengleiche hm, wie im Bild 2 zu sehen ist, schnell zunimmt, wenn der Standort zu weit querab liegt. Aus diesem Grund können Höhen über 80°, manche sagen sogar 70° größere Standortfehler verursachen. Zur Minimierung von Standortabweichungen sollte der Gissort sorgfältig gewählt werden, damit er nicht von vornherein zu weit vom wahren Standort entfernt liegt. Trotz dieser Restriktion waren Standortabweichungen signifikant kleiner als bei Verwendung der Original Sumner Standlinienkonstruktion.

Dieses Verfahren etablierte sich zum weltweiten Standard in der Navigation und wurde erst durch die Satellitennavigation abgelöst. Es erhielt den Namen Interceptverfahren. Im deutschsprachigen Raum gab es mehrere Bezeichnungen wie Höhenverfahren, Höhendifferenzverfahren oder einfach nur allgemeines Verfahren.

 

Digitalisierung

Das Höhendifferenzverfahren ist ganz klar unübertroffen, wenn ein Standort auf See ausschließlich zeichnerisch, das heißt mit Bleistift, Taschenrechner, Zeichenbesteck und nautischem Jahrbuch auf dem Papier oder direkt auf der Seekarte gefunden werden soll. Das machen aber nur ganz wenige, die das als Hobby betreiben. Es gibt aber auch Segler, die ihr Hobby darin sehen wollen, einfach nur mit dem Sextanten zu navigieren, ohne gezwungen zu sein, ständig nautische Unterlagen aktuell zu halten und ohne genau alle Einzelheiten wissen zu wollen, wie das früher gemacht wurde. Diese Segler benötigen ein Navigationsprogramm oder eine App für Mobilgeräte.

Schnell wird man feststellen, dass allen Rechneranwendungen das Höhendifferenzverfahren zugrunde liegt. Dabei nervt, dass ein Gissort anzugeben ist und größere Höhen, wie sie bereits im Mittelmeer vorliegen, größere Fehler verursachen können. Das alles wäre vermieden, wenn ein Navigationsprogramm auf Grundlage der „Standortbestimmung direkt aus den Höhengleichen“ oder der Gauß Methode aufgebaut wäre. Doch darum soll es in diesem Beitrag überhaupt nicht gehen.

Wer eine Navigations-App programmiert, sollte doch recherchieren, zu welchem Zweck das Verfahren, das er in Computercode umwandeln will, einst gemacht wurde. Unbestreitbar ist das Höhendifferenzverfahren eine Modifikation der Sumner Methode. Das Ziel dieser Modifikation war eine Verkleinerung des Maßstabs und damit eine wesentlich genauere Ablesbarkeit in den Grafiken. Dazu mussten Restriktionen in Kauf genommen werden, so die Notwendigkeit, einen Gissort bestimmen zu müssen und eine Begrenzung in der Höhenmessung. Außerdem wird mit dem Verfahren kein Standort bestimmt, sondern nur ein Ort, der sehr viel näher am wahren Standort liegt, als der Gissort.

Man muss sich ernsthaft fragen, warum das speziell für zeichnerische Verwendungen modifizierte Sumner Verfahren, das nach der Modifikation zum Hilaire Verfahren wurde, immer in Computeranwendungen eingesetzt wird. Wäre es nicht bedeutend klüger, für Computeranwendungen das Original Sumner Verfahren zu benutzen? Man muss doch Segler, die einfach nur mit einem Sextanten navigieren wollen, nicht mit den Restriktionen der Hilaire Methode belasten.

Das im 19. Jahrhundert der Sumner Methode zugeschriebene Problem der Ungenauigkeit existiert nur, wenn es grafisch verwendet wird. In Computerprogrammen lässt sich das ändern. Ein Navigationsprogramm auf Grundlage der Sumner Methode benötigt keinen Gissort, hat keine Höhenbegrenzung und berechnet einen Standort mit höchster Präzision allein aus den Eingaben von Zeit und Höhe zweier Beobachtungen. Warum das nicht gemacht wird, ist wahrscheinlich der inflationären Präsenz des Hilaire Verfahrens zuzuschreiben, wodurch auch das Sumner Verfahren völlig verdrängt und vergessen worden ist.

 

Sumner mit Excel

Was mit dem MS Programm Excel berechnet werden kann, lässt sich auch in mit jeder anderen Programmiersprache in ein Programm oder eine App für Mobilgeräte umwandeln. Das nachfolgend beschriebene Excel Sheet kann durchaus auch in der praktischen Navigation verwendet werden und kann auch auf mobile Geräte geladen werden, wenn darauf die Excel App installiert ist. Die Datei kann hier heruntergeladen werden:

sumner_navigation_pro

 

Eingabenmaske

Bild 3 zeigt die Eingabenmaske. In dem oberen blau umrandeten Block sind zunächst einige Einstellungen zu machen. So muss für jede Beobachtung angegeben werden, ob die Sonne mit ihrem Unterrand „U“ oder mit ihrem Oberrand „O“ im Fernrohr des Sextanten auf den Horizont gesetzt wird.

Bild 3: Eingabenmaske

Damit das Programm die Kimmtiefe berechnen kann, ist die Augeshöhe anzugeben. Im Beispiel sind es 2,0 m. Wichtig ist auch eine Angabe der Indexberichtigung, die in Bogenminuten anzugeben ist. Die Indexberichtigung ist gleich dem Indexfehler des Sextanten, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Weil Plastiksextanten sehr temperaturempfindlich sind, muss ihr Indexfehler nach jeder Beobachtung neu festgestellt und mit umgekehrten Vorzeichen eingegeben werden. Bei Sextanten mit Metallrahmen ist das nicht erforderlich. Als letztes muss noch angegeben werden, ob auf der Norhalbkugel oder auf der Südhalbkugel gesegelt wird. 

Im Block „Messung 1“ sind neben dem Datum die sekundengenaue die Zeit und der mit dem Sextanten gemessene Höhenwinkel der Sonne einzugeben. Eine Berichtigung des vom Sextanten abgelesenen Winkels, eine sogenannte Sextantenbeschickung ist nicht extra zu machen. 

Weil zwischen den Beobachtungen eine Zwischenzeit vergeht, in der eine Ortsveränderung, eine sogenannte Versegelung stattfindet, und die Position für den Ort der zweiten Beobachtung bestimmt werden soll, muss die Ortsveränderung als Luftlinie und als mittlerer Kurs erfasst werden. Das hier anzuwendende Verfahren nennt sich Koppelnavigation. Die festgestellten Werte sind zum Zeitpunkt der zweiten Beobachtung einzutragen und sind relevant für die Positionsberechnung.

Die Werte der zweiten Beobachtung sind im Block „Messung 2“ einzutragen. Das Datum wird aus dem Block „Messung 1“ übernommen, kann aber auch geändert werden. Sobald die Tageszeit der zweiten Beobachtung kleiner als die der ersten Beobachtung wird, gibt es einen Warnhinweis. Dann muss in das Feld „plus Tage“ eine 1 eingetragen werden.

 

Arbeitsweise

Damit das Programm ordnungsgemäß arbeiten kann, sind verschieden Module erforderlich. Es handelt sich dabei um folgende:

  • Berechnung der Sonnenpositionen (sun Almanac)
  • Sextantenbeschickung
  • Modul zu Ermittlung der Peilrichtung
  • Höhenanpassung
  • Berechnung einer proforma Position
  • Positionsberechnung
  • Zahlentabelle der globalen Grafik
  • Zahlentabelle der Standortgrafik

Zur Standortberechnung muss zunächst ein sogenannter proforma Standort ausgerechnet werden. Dieser ist zur Berechnung versegelter Standorte wichtig, weil zur Höhenanpassung das Azimut gebraucht wird. Höhenanpassung ist ein Prozess, der in der grafischen Navigation mit der Parallelverschiebung der erstgemessenen Standlinie gleichzusetzen ist. Zur Berechnung des Azimuts wird der LHA gebraucht und dafür die Länge, die der proforma Standort als unversegelte Länge bereithält.

Die Berechnung selbst erfolgt über eine Tabelle. In jeder Tabellenzeile wird ein neuer Standort berechnet. In der ersten Zeile wird ein Standort berechnet bei dem die eine zu schätzende Breite die maximale Nord- oder Südausdehnung der kleinsten Höhengleich aus den zwei Beobachtungen ist. Die zweite Breite hat davon einen Abstand von 1°.  Aus der damit berechnete Breite werden dann zwei Breiten für die nächste Berechnung angelegt, die sich jetzt nur um 0,5° unterscheiden.Das geht dann so weiter, bis sich die Schätzbreiten in der achten Spalte nur noch um 0,0078° unterscheiden. Andiesem Punkt ist die Sekante quasi eine Tangente und der Standort sowohl in der Länge als auch der Breite auf den Meter genau bestimmt. 

 

wird dann um ±0,5° Aus der dami berechneten Breite  zugrundliegenerden der Tabelle berechnet einen

 

nötig, um eine Höhenanpassung durchführen zu können. Eine Ortsveränderung zwischen den Beobachtungen bedeutet eine Änderung des Durchmessers der erstgemessenen Höhengleiche. Die im Bild 6 grün gezeichnete Höhengleiche hat am Ort der zweiten Beobachtung einen anderen Durchmesser, wenn der Bildpunkt der Sonne aus der ersten Beobachtung auf der gleichen Stelle verharrt. Diese Durchmesser-Änderung zeigt sich in der Vergrößerung im Bild 7 als Parallelverschiebund der ersten grün gestrichelten Standlinie. So wurde und wird es heute noch in den Segelschulen gelehrt. Zur Bestimmung eines Standortes mit Versegelung muss die Standlinie aus der ersten Beobachtung entsprechen dem abgesetzten Kurs und der Distanz parallel verschoben werden. Bei den großen Durchmessern der Höhengleichen sind das dann Geraden.

Zur Berechnung des proforma Standortes wird die maximale Nord- oder Südausdehnung der kleinsten Höhengleiche , je nach von Eingabe von N oder S, als erste Schätzbreite deklariert. Die zweite Schätzbreite ergibt sich nach Minderung dieser Breite um 1°. Für diese Breiten wird dann für jede Höhengleiche ausgerechnet, an welchen Längen diese die Breiten passieren. Aus den zwei Punkten an jeder Höhengleiche lässt sich nun jeweils eine lineare Gleichung der Form Y = mx + b bilden. Die beiden linearen Gleichungen kreuzen sich und der Kreuzungspunkt markiert einen Standort, der aber noch fernab vom wahren Standort liegt. Im nächsten Schritt passiert genau dasselbe, nur dass jetzt die Breite des berechneten Standorts hergenommen wird und mit 0,5° vermindert die zweite Breite liefert. Das Ergebnis ist ein zweiter, aber weiter angenäherter Standort. Das geht nun weiter so, mit immer enger werdenden Breiten und so lange, bis sich ein errechneter Standort von dem Standort aus dem vorherigen Rechendurchgang nicht mehr unterscheidet. In Excel muss man dazu eine feste Anzahl von Rechendurchgängenvorgeben. Mit acht Rechendurchgängen konnte dieses Ziel in allen Fällen erreicht werden. Die letzten Breiten liegen dann nur noch 0,0039° auseinander, was etwa 500 m sind. Zur Erinnerung: Sumner rechnete mit einem Breitenabstand von 111 Kilometern und erzielte damit schon beachtliche Standortgenauigkeiten.

Mit dieser proforma Position wird jetzt die Höhe angepasst, was bedeutet, dass der Durchmesser der erstgemessenen Höhengleiche so verändert wird, dass seine Kreislinie durch die Position der zweiten Beobachtung verläuft. Danach geschieht das Gleiche, wie bei der Bestimmung der proforma Position, nur mit dem Unterschied dass als erste Höhengleiche diejenige mit der angepassten Höhe benutzt wird. Das Ergebnis ist die Position am Ort der zweiten Beobachtung.