1 Kleiner Exkurs in die Geschichte der Astronavigation

Zur Bestimmung des Breitenkreises, auf dem sich ein Schiff gerade befindet, entwickelte der Mensch zahlreiche Werkzeuge, mit denen er diejenigen Himmelskörper beobachten konnte, die ihm Aufschluss darüber gaben. Die wichtigsten waren der Jakobsstab, Quadrant, Oktant und schließlich der Sextant. Seit langem schon war bekannt, dass die Höhe des Nordsterns auf der Nordhalbkugel mit der Standortbreite ziemlich gut übereinstimmt und seit dem Mittelalter existieren einigermaßen brauchbare Deklinationstabellen, die es ermöglichen, die Standortbreite auch aus der Kulmination der Sonne am Mittag zu bestimmen. 
Daraus entwickelte sich schon früh eine besondere Navigationsmethode, das sogenannte Breiteln.

Bild 1.1 links: Die Beobachtung der Sonne mit einem Jakobsstab führte oft zu Erblindungen. Bild 1.2 rechts: Mit einem Oktanten wurden genauere Beobachtungen möglich.

Auch Columbus hat diese Methode benutzt, um zurück nach Europa zu kommen. Er segelte zunächst von der Karibik kommend immer nur nach Nordosten, bis er die gewünschte Breite von Kap St. Vincent in Portugal erreichte, und änderte dann seinen Kurs direkt nach Osten. Auf seiner Weiterreise versuchte er, auf möglichst gleicher Nordsternhöhe zu bleiben, auch wenn ihn manchmal Stürme abtrieben. Im Verlauf seiner Reise traf er auf die Azoren und erreichte schließlich sogar ziemlich genau Lissabon, was am Ende mehr ein Zufall war.
Eine Bestimmung des Längengrades galt dagegen lange Zeit als unmöglich, obwohl bereits Wege dafür angedacht waren. Im 16. Jahrhundert vertraten Galilei und andere die Auffassung, dass der Längengrad mit einer exakt laufenden Uhr bestimmt werden könne. Doch der Versuch einer Längengrad-Bestimmung mit einer Pendeluhr an Bord dauerte nur bis zum ersten Sturm, der das Pendel völlig außer Takt brachte und nach dem die Uhr dann nicht mehr gestellt werden konnte.
Später ermittelte man die Zeit durch Messungen von Monddistanzen zu Fixsternen, die wiederum eine Bestimmung der Zeit in Greenwich ermöglichte. Spätestens damit erlangte die Mathematik einen wichtigen Stellenwert in der Praxis der Navigation.

1.1 Das Problem der der zwei Höhen

Der Portugiese Pedro Nunes (1502–1578) beschrieb ein Prinzip, wonach die geografische Breite aus zwei unterschiedlichen Höhen der Sonne bestimmt werden konnte. Von dem dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546–1601) ist bekannt, dass er die unbekannte Position eines Sterns aus der bekannten Position zweier anderer Sterne ableiten konnte. Diese Aufgabe unterscheidet sich genau genommen nicht von der Bestimmung der unbekannten Position eines Schiffes. Das Gradnetz der Erde ist eine Projektion des Gradnetzes an der Himmelskugel. Somit ist die Position des Zenits Z eines Schiffes auf dem Gradnetz der Himmelskugel identisch mit der Position des Schiffes auf dem Gradnetz der Erde.
Auf diese Weise ließe sich die Tätigkeit der Astronomen auf eine Positionsbestimmung auf dem Meer übertragen. Die Aufgabe bestände nur darin, den unbekannten Zenit einer Schiffsposition aus der Position zweier bekannter Himmelskörper oder der Position der Sonne zu zwei verschiedenen Zeiten abzuleiten. Diese Aufgabe ist als Problem der zwei Höhen oder einfach als Zweihöhenproblem bekannt geworden.
Ein einfacher Rechenweg ließ sich für diese Aufgabe allerdings nicht finden. Die Mathematik befand sich noch im Wachsen. Zwar gab es schon genügend Arbeitsergebnisse zur sphärischen Trigonometrie, doch diese waren noch völlig ungeordnet und damit nicht reif für eine allgemeine Verwendung. Einen Anschub zur Lösung des Zweihöhenproblems leistete ein Preisausschreiben, das die Pariser Akademie der Wissenschaften am 17. Mai 1727 veröffentlicht hatte. Ein Preis sollte demjenigen zuerkannt werden, der eine praktikable Lösung für das Zweihöhenproblem anbieten konnte. Unter den zahlreichen Teilnehmern, die einen Preis zu gewinnen hofften, fand sich auch Daniel Bernoulli, der heute vor allem als Begründer der Strömungslehre bekannt ist. Er wollte die geografische Breite aus drei aufeinanderfolgend gemessenen Höhen und den korrespondierenden Zwischenzeiten an ein- und demselben Himmelskörper bestimmen, ohne dessen Koordinaten zu kennen.
Die Suche nach einfachen Lösungen zog sich recht erfolglos bis fast in die Mitte des 19. Jahrhunderts hin. Unzählige Publikationen mit mehr oder weniger praktischem Nutzen wurden bekannt. Vielfach wurde versucht, die sphärische Trigonometrie zu umgehen, indem stattdessen in der Trigonometrie der Ebene oder sogar in der allgemeinen Arithmetik nach Ausweichlösungen gesucht wurde.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat Leonhard Euler (1707–1783) die Sätze der sphärischen Trigonometrie systematisiert und darüber hinaus leicht verständliche Anleitungen gegeben, wie diese anzuwenden sind. Weil zu dieser Zeit die Berechnung nur mithilfe von Logarithmen möglich war, hat Euler die Formeln sogar in zwei Varianten publiziert. In einer ersten Variante wurden sie in ihrer anschaulichsten und heute bekannten Form interpretiert. Die zweite Variante war eine sogenannte abgeleitete Gleichung, die nur noch aus Produkten und Quotienten bestand, und damit im Hinblick auf eine rechnerische Anwendung mit Logarithmen optimiert war. Mit dieser Arbeit hatte Euler die Grundlage für ein mathematisch strenges Verfahren zur Berechnung der Breite eines Standortes aus den gemessenen Höhen zweier Himmelskörper geschaffen.

 

Bild 1.3: Zweihöhenproblem: Bestimmung des Standortes Z aus den Deklinationen und Höhen der Sonne aus zwei Zeiten.

Nachfolgend soll der mathematische Hintergrund der Lösung des Zweihöhenproblems dargelegt werden. Wir benutzen dazu die Skizze im Bild 1.3. Darin finden wir die Zenitalpunkte bzw. Bildpunkte der Sonne, die mit X und X’ bezeichnet sind. Das sind die geografischen Punkte auf der Erde, an denen die Sonne gerade im Zenit steht – und zwar zu dem Zeitpunkt, in dem ihre jeweilige Höhe über dem Horizont von einem Standort Z aus mit einem Sextanten gemessen wird. Die geografischen Positionen dieser Bildpunkte in den Messzeiten müssen natürlich bekannt sein. Dafür gab es damals schon Tabellen, aus denen die Deklinationen 𝛿 für jede Stunde eines Jahres entnommen werden konnte. Die Beobachtungszeiten sollten ein paar Stunden Sonnenlaufzeit auseinanderliegen und zudem war es günstig, die erste Beobachtung am Vormittag und die zweite am Nachmittag zu machen. Einen vierten Bezugspunkt in diesem Modell stellt der Pol P dar, der in unserem Fall der Nordpol ist.
Die Verbindungslinien der Punkte XP und XZ sind bekannt und errechnen sich als 90° – 𝛿 bzw. 90° – 𝛿’. Ebenso bekannt sind die Verbindungslinien der Punkte ZX und ZX’, denn dabei handelt es sich um die Zenitabstände s der gemessenen Sonnenhöhen und zwar s = 90° – h bzw. s’ = 90° – h’. Diese bezeichnet man auch als Komplemente der gemessenen Horizontabstände der Sonne, denn es sind ihre Ergänzungen zu 90°.
Daraus ergeben sich zwei nebeneinander liegende sphärische Polardreiecke. Diese haben eine gemeinsame Seite, nämlich die Seite b. Sollte es jetzt möglich sein, diese Seite b zu berechnen, dann hätte man die Standortbreite 𝜑, denn es gilt 𝜑 = 90° – b. Die Mathematiker hatten schon im 18. Jahrhundert herausgefunden, wie die Breite 𝜑 berechnet werden kann. Dies ging mithilfe des großen Dreiecks XPX’ und der Zwischenzeit der Sonnenbeobachtungen, die den Polwinkel 𝜃 liefert.
Ein Verfahren, aus dieser Konstellation die Seite b und daraus die Breite 𝜑 exakt zu berechnen, war also bekannt. Doch der Rechenaufwand dafür war viel zu hoch. Eine Breitenberechnung hätte an Bord eines Schiffes viel Zeit beansprucht, in der das Schiff große Strecken zurückgelegt hätte. So kam das Verfahren bei den Seefahrern nicht an. Die Weiterentwicklung der Mathematik brachte enttäuschenderweise zunächst keine Lösung für die Praxis.

1.2 Cornelis Dowes

Die astronomische Aufgabe, die Breite eines Ortes zu finden, galt damals als eine der wichtigsten Aufgaben in der Geografie und Navigation. War von einem Schiffsort die Breite bekannt, so konnten aus gemessenen Distanzen zwischen Mond und bekannten Fixsternen die Zeit und damit die geografische Länge sowie daraus der Standort bestimmt werden. Die Monddistanzen-Methode war allerdings auch nicht ganz trivial und erforderte neben einigen Berechnungen zudem noch Unterlagen in Form von Tabellen. Die exakte Breite war bis dato allerdings nur aus der Beobachtung des Nordsterns oder als Mittagsbreite zu bestimmen.
Der Holländer Cornelis Douwes (1712–1773) war Direktor der Seefahrtsschule in Amsterdam. Seine Vision war es, das Zweihöhenproblem für die Seefahrer nutzbar zu machen. Zu diesem Zweck entwickelte er eine Methode, wie aus zwei außer dem Mittagskreis beobachteten Sonnenhöhen die Breite eines Ortes gefunden werden kann. Sein Ansatz bestand darin, die mühsame logarithmische Berechnung der Polardreiecke abzukürzen, indem er eine spezielle eigene Logarithmentafel schuf. Bei Benutzung dieser Douw’schen Tafel musste weniger gerechnet und weniger in Tabellen gesucht werden. Insgesamt waren neun Tabellenzugriffe für eine Breitenberechnung erforderlich. Dies verringerte den Rechenaufwand gegenüber der strengen Rechenmethode mit mehr als 20 notwendigen Tabellenzugriffen, wobei nach jedem Tabellenzugriff auch immer eine Interpolation nötig war, auf etwa ein Drittel. Seine Methode war nicht ganz exakt und enthielt Vereinfachungen. Eine davon war die Notwendigkeit, einen Standort vorher schätzen zu müssen.
Douwes erhielt für seine Tafelmethode von der britischen Längengradkommission einen ansehnlichen Preis. Danach hat sich sein Verfahren sowohl unter den holländischen als auch englischen Seeleuten etablieren können und war bis ins 19. Jahrhundert hinein eine verbreitete Standardmethode.

1.3 Chevalier de Borda

Eine außerordentlich interessante Idee zur Breitenbestimmung hatte der Franzose Jean-Borda auf seiner Reise 1771/72, die ihn mit dem Forschungsschiff Flora an der westafrikanischen Küste entlangführte. Genaue Ergebnisse konnte man damit allerdings nur über sogenannte rigorose Berechnungen erhalten.

Borda machte zwei Beobachtungen der Sonne, um deren Höhen h über dem Horizont, den Horizontabstand, feststellen zu können. Das Prinzip wird im Bild 1.4 aufgezeigt. Die erste Messung erfolgte am Vormittag und lieferte den grün markierten Horizontabstand s = 90° – h. Die zweite Beobachtung am Nachmittag zeigte dann den im Bild rot markierten Horizontabstand s’ = 90° – h’.

Bild 1.4: Borda: Diejenige Breite ist die Richtige, bei der die Zwischenzeit t mit der Summe der aus den Stundenwinkeln berechneten Zeit übereinstimmt.

Das Verfahren ist besonders dann geeignet, wenn sich die Breite infolge eines Nord-Süd-Kurses schnell ändert oder die Mittagsbreite wegen der Bedeckung des Himmels nicht bestimmt werden kann. Neben den Höhenmessungen musste auch die Zwischenzeit t, die Zeit zwischen den Beobachtungen, festgehalten werden, die jedoch mit einer einfachen Schiffsuhr gemessen werden konnte.

Vor dem Beginn einer Berechnung musste die eigene Breite noch geschätzt werden. Aus dieser geschätzten Breite, den Komplementen s und s’ der jeweils beobachteten Höhen und den Deklinationen während der Beobachtungen wurden dann die Stundenwinkel 𝜏1 und 𝜏2 der beiden Polardreiecke XPZ und X’PZ berechnet. 
Diese wurden addiert und ihre Summe durch die Winkelgeschwindigkeit der Sonne von 15°/h dividiert. Das Ergebnis davon war die berechnete! Laufzeit der Sonne zwischen den Beobachtungen. Diese würde mit der gemessenen Zwischenzeit t übereinstimmen, wenn die Breite richtig geschätzt worden wäre.

Auf dem Bild ist leicht nachzuvollziehen, dass sich der Abstand zwischen den Bildpunkten der Sonnen X und X’ spreizt, wenn bei gleichbleibenden Längen von s und s’ eine kleinere Breite zur Anwendung kommt bzw. geschätzt wird. Als Folge würde dann eine Laufzeit der Sonne berechnet werden, die größer ist als die gemessene wahre Zwischenzeit t.

Nun könnte das Ganze mit einer jeweils anderen Breite wiederholt werden, bis es passt. Der Astronom Jerome Lalande hatte dann allerdings die Idee, die wahrscheinlich richtige Breite aus zwei Breitenschätzungen über einen Dreisatz zu finden. Das Verfahren erwies sich als bemerkenswert genau, wenn es gelang, die Breiten vorher einigermaßen exakt zu schätzen. War dies nicht der Fall, dann ergaben sich größere Abweichungen, die zur Wiederholung der ganzen Rechnungen drängten. 
Auch hier war mitunter ein riesiger Rechenaufwand zu bewältigen und so kam dieses Verfahren bei den Seefahrern ebenfalls nicht an.

1.4 Die Chronometerlänge

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts existierten schon einige Verfahren zur Bestimmung der Breite. Am genauesten davon war die Mittagsbreite und sie wurde auf allen Seeschiffen auch täglich bestimmt. Die aktuelle Breite musste anschließend durch Koppeln gefunden werden. Darunter wird das Hinzufügen der Breitenkomponente verstanden, die seit der letzten Standort-Feststellung mittels Log und Kompass errechnet werden konnte.

Damals war es üblich, dass die Schiffe in bekannten Gewässern an einer Küste entlang wochenlang Breiten absegelten, bis die gewünschte Breite erreicht war. Erst dann konnten sie den Breitenkreis entlang eine Überfahrt zu einem bekannten Hafen auf der anderen Seite eines Ozeans wagen. Während der Überfahrt musste ständig die Breite festgestellt und gegebenenfalls korrigiert werden.

Die Suche nach einer Methode, um den Längengrad feststellen zu können, hat insgesamt 400 Jahre angedauert. Für einen Weg zu seiner Bestimmung setzte der spanische König im Jahre 1600 ein Preisgeld aus, doch er blieb damit erfolglos. Mehr als hundert Jahre später, im Jahre 1714, folgte das englische Parlament diesem Beispiel und setzte bis zu 20 000 Pfund Preisgeld für eine praktikable Lösung des Längenproblems aus. Anlass war der Untergang von vier Schiffen, die sieben Jahre zuvor auf den Klippen der Skilly-Inseln zerbrachen, wobei etwa 1500 Seeleute den Tod fanden.

Erst zehn Jahre später beschäftigte sich John Harrison mit dieser Aufgabe. Er war eigentlich Tischler, hatte aber bereits eine Uhr mit Holzzahnrädern gebaut. Ihn ließ die Vision nicht mehr los, eine exakt gehende Schiffsuhr zu bauen. Damals gab es zwar schon Verfahren, wie die Zeit aus der Bedeckung der Jupitermonde oder aus dem Abstand des Erdmondes von bekannten Fixsternen hergeleitet werden konnte, doch ersteres war viel zu selten und konnte deshalb nur in Observatorien an Land für Zeitkorrekturen benutzt werden. Monddistanzmessungen waren dahingegen an Bord schon gängiger geworden, aber doch recht aufwendig.

Bild 1.5: Die H4, die vorletzte von John Harrison gebaute Längengraduhr.

Mit einem ersten Uhrenexemplar von Harrison, das später H1 genannt wurde, gelang eine Testfahrt, bei der die Genauigkeit der Methode bestätigt werden konnte. Das Preisgeld wurde jedoch nicht gezahlt, weil die Testreise nicht ganz den Anforderungen entsprach. Es konnte auch alles nur Zufall gewesen sein, meinten einige Kritiker. Außerdem gab es Widerstände und Bedenkenträger. So wurde die Zuverlässigkeit eines technischen Instrumentes grundlegend angezweifelt. Ein ständiger Widersacher war insbesondere der Hofastronom des englischen Königshauses, Nevil Maskelyne. Er setzte auf die Monddistanzmethode, weil diese unabhängig von technischen Instrumenten ist, und sah in der Entwicklung der Längenuhr eine Konkurrenz zu seinen eigenen Ideen, um die Monddistanzmethode zu vervollkommnen.

Erst als James Cook 1775 von seiner zweiten Weltreise zurückkehrte und die gute Qualität eines heute mit K1 bezeichneten Modells eines Harrison Chronometers bestätigte, galt auch in Astronomen-Kreisen das Längenproblem als gelöst. Harrison wurde ein Preisgeld von 10 000 £ zugesprochen. Die K1 war ein exakter Nachbau der H4. Eine Weiterentwicklung, heute mit H5 bezeichnet, wurde von König Georg III persönlich getestet. Dafür erhielt Harrison weitere 8 750 £. 

Nach der H5, die damals etwa 500 £ kostete, bauten Uhrmacher die Modelle nach und die Preise sanken. Die ersten in Serie produzierten Marine Chronometer waren ab etwa 1790 verfügbar. Die Tatsache, dass die Beagle auf ihrer Forschungsreise mit dem berühmten Charles Darwin gleich 22 Stück davon an Bord hatte, zeigt, welche Bedeutung dem beigemessen wurde. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte der Bedarf an Chronometern einigermaßen gedeckt werden – in England bereits früher.

Die Bestimmung der Chronometerlänge ist ein einfacher Vorgang, den wir uns nun an dem im Bild 1.6 aufgezeigten Modell klarmachen wollen. Nachdem die Breite 𝜑 z. B. als Mittagsbreite oder Koppelbreite festgestellt worden ist, wird die Höhe der Sonne über der Kimm mit einem Sextanten gemessen. Nach Berichtigung des abgelesenen Höhenwinkels erhält man die beobachtete Höhe h. Das Komplement dieser Höhe, die Ergänzung zu 90° ist der Zenitabstand s, der im Bild als die grüne Dreieckseite zwischen Z und X eingezeichnet ist. Ganz entscheidend bei Höhenmessungen ist die Feststellung der sekundengenauen Zeit, in der das Gestirn im Teleskop des Sextanten auf die Kimm gesetzt wurde. 

Als nächstes muss die Deklination 𝛿 aus einem nautischen Almanach herausgesucht werden. Dazu braucht man ebenfalls die Beobachtungszeit, jedoch nur minutengenau, weil sich die Deklination nur sehr langsam ändert.

Damit sind alle Seiten des nautischen Dreiecks oder Poldreiecks im Bild 1.6 bekannt. Wir haben:

  • Seite b = 90° – 𝜑,
  • Seite s = 90° – h,
  • Seite p = 90° – 𝛿.

Wenn von einem sphärischen Dreieck alle Seiten bekannt sind, dann kann jeder der drei möglichen Winkel in den Ecken berechnet werden. In unserem Fall wird der Polwinkel 𝜏 berechnet.

Bild 1.6: Bestimmung der Chronometerlänge an einem Polardreieck als Summe (oder Differenz) von GHA (Grt) und Stundenwinkel. (s = 90° – h)

Die Länge 𝜆 besteht, wie im Bild zu sehen ist, aus der Summe von 𝜏 und einem zweiten mit GHA bezeichneten Winkel. GHA ist die Abkürzung für Greenwich Hour Angle. Im deutschen Sprachgebrauch ist dafür die Bezeichnung Grt üblich.

Dieser Stundenwinkel beschreibt die Differenz zwischen dem durch die Sternwarte von Greenwich laufenden Nullmeridian und dem Meridian, auf dem der Bildpunkt der Sonne in einer anzugebenden Zeit steht. Diese Zeit muss sekundengenau angegeben sein, denn die Winkelgeschwindigkeit der Sonne ist mit 15°/h sehr hoch. Am Äquator ergeben das 463 m/s.

Dass der Nullmeridian durch die Sternwarte von Greenwich gehen soll, wurde 1884 auf der internationalen Meridiankonferenz in Chicago festgelegt. Dort gab es mehrere Vorschläge, u. a. auch von Frankreich, den Nullmeridian durch Paris laufen zu lassen. Weil zu jener Zeit die größere Menge an bereits vorhandener nautischer Literatur und auch Zahlentafeln den Nullmeridian durch Greenwich berücksichtigten, fiel die Entscheidung auf diesen Ort.

Aus der konstanten Winkelgeschwindigkeit der Sonne von 15°/h könnte jetzt der GHA berechnet werden, wenn die Zeit bekannt wäre, in der die Sonne den Nullmeridian passiert. Hier gibt es jedoch ein Problem.

Ein Chronometer geht absolut gleichmäßig. Wenn es 365-mal im Jahr seine 24 Stunden abdreht, dann geschieht es nur an vier Tagen, dass die Sonne genau um 12:00:00 GMT (Greenwich Mean Time), der heutigen Atomuhrzeit, auf dem Nullmeridian kulminiert. An allen anderen Tagen kulminiert sie bereits vor 12:00 Uhr oder danach. Die Sonnenzeit und die Chronometerzeit laufen nämlich nicht synchron. Dies ahnte man bereits im Mittelalter und es hat sich später auch herausgestellt, dass die ersten Pendeluhren nicht im Gleichgang mit den Sonnenuhren waren, die früher überall an den Kirch- oder Rathauswänden angebracht wurden. Sie gingen scheinbar einmal vor und dann wieder nach – und das bis zu einer Viertelstunde.

Wenn mit der Sonne navigiert werden soll, dann muss auch die Sonnenzeit verfügbar sein. Um aus der Chronometerzeit die Sonnenzeit zu erhalten, brauchte man eine Ausgleichszeit. Der Name dafür lautet Zeitgleichung. Dies ist keine Gleichung im mathematischen Sinne, sondern ein Wert aus einer Tabelle, der für ein bestimmtes Datum den Zeitausgleich angibt. Es sind tatsächlich bis zu 16 Minuten, die ein Chronometer innerhalb eines Jahres gegenüber der Sonnenzeit vor- oder nachgehen kann.
Nachdem Johannes Keppler die Bahn der Erde um die Sonne genau berechnet hatte, konnte auch die Zeitgleichung ermittelt werden. Diese Arbeit hat der erste Hofastronom des englischen Königshauses, John Flamsteed (1646–1719), durchgeführt.

Danach ist die von gleichmäßig gehenden sogenannten Räderuhren angegebene Zeit nur eine mittlere Zeit. Die wahre Sonnenzeit, nach der auch nur mit der Sonne navigiert werden kann, ist die Summe der Chronometerzeit GMT und der Zeitgleichung. An Bord der Schiffe muss deshalb neben einem genau gehenden Chronometer auch stets eine Jahrestabelle mit der Zeitgleichung vorhanden sein.
Um jetzt auf die Bestimmung des GHA zurückzukommen, stelle man sich vor, dass auf einem Schiff im Atlantik die Sonne um 14:00:00 GMT beobachtet wurde. Aufgrund der Zeitgleichung soll die Sonne den Nullmeridian bereits um 11:58 GMT passiert haben und ist dann um 12:00 GMT schon 2° westlich von Greenwich. Damit ist dann klar, dass auch das Schiff um 14:00 GMT nicht auf 30° W, sondern auf 32° westlicher Länge steht.
So muss zur Bestimmung des Längengrades zunächst die Differenz zwischen Beobachtungszeit und 12:00:00 GMT berechnet werden. Dann wird die Zeitgleichung hinzu addiert und die erhaltene Summe mit der Winkelgeschwindigkeit der Sonne von 15°/h multipliziert. Ab Mitte des 19. Jhd. wird der GHA (dt. = Grt) in Nautischen Jahrbüchern tabelliert, wodurch sich die Arbeit mit den Zeitgleichungstabellen erübrigt hat.
Bild 1.6 zeigt den Fall, dass die Sonne im Osten beobachtet wird, also am Schiffsvormittag. Dadurch errechnet sich die Standortlänge als Summe von GHA und 𝜏. Sobald die Sonne am Schiffsmittag den eigenen Standort überholt hat und westlich beobachtet wird, muss die Länge als Differenz von GHA und 𝜏 berechnet werden.

1.5 Carl Friedrich Gauß

Gauß war der wohl größte Mathematiker aller Zeiten. Im Zusammenhang mit einer seiner Lieblingsbeschäftigungen der Landesvermessung und Kartografie hat er sich auch mit der Bestimmung von Breiten- und Längengraden beschäftigt. Darüber hat er eine bemerkenswerte Arbeit verfasst, die jedoch im Anschluss an seine Publikation im Jahre 1809 nie wieder in der nautischen Literatur Erwähnung gefunden hat. Des Weiteren ist es interessant, dass der Mathematiker und Buchautor Heinrich Dörrie (1873–1955) in einem Fachbuch über die Trigonometrie Gauß und das Zweihöhenproblem aufgriff und darin ein ganz anderes Verfahren als Gauß-Methode vorstellte. Mehrere Autoren haben diesen Irrtum dann weiter verbreitet und somit die echte Gauß-Methode umgedeutet. Worin besteht die Gauß-Methode also wirklich? Der wichtigste Teil seiner Originalveröffentlichung ist deshalb im Anhang dieses Buches wiedergegeben.

Auch wenn Gauß kein Seemann gewesen ist, waren neben der Mathematik Astronomie und Kartografie nur zwei Gebiete unter vielen, in denen er außergewöhnliche Leistungen vollbrachte. Am bekanntesten ist wohl die von ihm gefundene Glockenkurve der statistischen Normalverteilung. Weitere bedeutende Arbeiten sind der nach ihm betitelte Gauß’sche Algorithmus zur Lösung algebraischer Gleichungssysteme oder die Methode der kleinsten Fehlerquadrate, mit der er z. B. die Bahn des Zwergplaneten Ceres berechnen konnte, sodass man ihn wiederfand, nachdem er eines Tages scheinbar hinter der Sonne verschwunden schien.

Als Kartograf musste Gauß auch Längen- und Breitengrade bestimmen können, um diese auf den Karten eintragen zu können. Dies war also nicht nur eine Aufgabe der Seefahrer. Das Problem der zwei Höhen und die Berechnung der Breite über die zwei Polardreiecke, wie sie im Bild 1.3 dargestellt sind, waren ihm wohl bekannt. Zur Lösung dieser Aufgabe müssen mit Formeln aus der sphärischen Trigonometrie Stück für Stück einzelne Elemente des Grafikmodells ausgerechnet werden, bis schließlich die Strecke b ermittelt werden kann, dessen Ergänzung zu 90° die gesuchte Breite liefert.

Gauß wollte diese Aufgabe jedoch anders lösen. So kann die im Bild 1.3 gezeigte Grafik auch abstrakt gesehen werden, indem jedes der beiden Dreiecke durch eine mathematische Gleichung beschrieben wird. Die zwei Gleichungen hängen dann über ihre gemeinsame Seite b und einen Stundenwinkel zusammen. Das ist praktisch ein Gleichungssystem mit der Unbekannten b und dem Stundenwinkel zwischen X und dem Standort Z. Seine Idee bestand nun darin, dieses Gleichungssystem mithilfe der mathematischen Analyse aufzulösen, was den Breitengrad und auch den Längengrad direkt liefern sollte. Damit sollte der mühsame Weg mit den Formeln aus der sphärischen Trigonometrie umgangen werden.

Das Gleichungssystem besteht jedoch ausnahmslos aus den transzendenten Funktionen des Sinus und des Kosinus und es existiert kein Algorithmus bzw. allgemeiner Weg, um diese Aufgabe überhaupt lösen zu können. So konnte es nur ein Mann wie Gauß sein, der dafür trotzdem eine Möglichkeit fand. Da er in einem Rechenbeispiel die bekannten Positionen zweier Fixsterne verwendete, erhielt er als Ergebnis den kompletten Standort, bestehend aus Längen- und Breitengrad.

Das Problem seiner Methode war nicht allein, dass der Rechenweg aus Schritten bestand, deren Ziele für Praktiker nicht erkennbar waren. Auch die Ergebnisformeln seiner Analyse hatten keinerlei Bezug mehr zu irgendeinem Element aus dem ursprünglichen zeichnerischen Modell. Wenn Gauß seine Methode jemandem hätte erklären sollen, dann müsste er wohl sagen, dass eine Erklärung nicht möglich sei, man könne damit nur rechnen.
Das ist wohl ein Hauptgrund dafür, dass die Gauß-Methode in der Seefahrt nie verwendet wurde und heute vergessen ist. Sie ist und bleibt ein Meisterstück der mathematischen Analyse. Selbst wenn sie damals in der Praxis angewendet worden wäre, dann hätte sie die Berechnung eines Standortes mit Logarithmen nur etwa um ein Drittel verkürzen können. So bleibt festzustellen, dass Gauß für die bereits bekannte Lösung des Zweihöhenproblems nur einen anderen, dafür aber genialen Lösungsweg fand, dessen Gebrauch seiner Zeit jedoch viel zu weit voraus war.

1.6 Die Industrielle Revolution

Sie begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und nahm im 19. Jahrhundert an Fahrt auf. Technik, Produktivität und Wissenschaften beschleunigten sich. Seemacht und Seehandel wuchsen in einem bisher nie gekannten Maße. Segelschiffe mussten den neuen Dampfschiffen weichen. Für die Industrienationen lagen die Kolonien weit weg und eine ständig wachsende Bevölkerung in Europa sowie den vereinigten Staaten von Amerika wollte versorgt werden. Der zunehmende Schiffsverkehr auf den Weltmeeren litt sehr darunter, dass die Möglichkeiten einer sicheren Hochseenavigation nur äußerst begrenzt waren. Neben der Option einer Navigation mittels Mittags- oder Nordsternbreite und Bestimmung der Chronometerlänge stand zur Breitenbestimmung außerhalb der Mittagszeit nur das Douwessche Verfahren zur Verfügung. Die Hersteller von Chronometern bemühten sich sehr darum, den riesigen Bedarf der Reeder und Kapitäne zu befriedigen.

Um Zeit und damit Geld zu sparen, mussten die Schiffe schneller werden. So erreichten die legendären Klipper bei gutem Wind Etmale von mehr als 400 nautischen Meilen, was bedeutete, dass diese Schiffe mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 20 Knoten fahren konnten. Trotz enormer Verbesserungen der Techniken und Ladefähigkeiten der Klipper konnten sie sich gegenüber Dampfschiffen am Ende dennoch nicht behaupten. Dampfschiffe verbrauchen jedoch Brennstoff, der Geld kostet. Wenn weniger Kohle gebunkert werden muss, dann kann mehr Nutzlast transportiert werden. Die gefahrenen Kurse wurden optimiert. Sie sollten dann aber auch eingehalten werden, was wiederum nur möglich werden konnte, wenn die Kapitäne entsprechende Navigationsmöglichkeiten an die Hand bekämen.

Der Druck, endlich bessere Navigationsverfahren zu entwickeln, wuchs. Die Mathematiker kannten zwar exakte Lösungen und das schon lange, aber der dafür zu leistende Rechenaufwand war an Bord der immer schneller werdenden Schiffe nicht zu erbringen. An Rechenhilfsmitteln standen nur Logarithmentafeln zur Verfügung. Damit hätte eine Standortberechnung viel zu lange gedauert. Außerdem wären gar nicht so viele Mathematiker aufzutreiben gewesen, um die Flotten damit zu bemannen.

In dieser Situation nahmen die Praktiker das Heft des Handelns selbst in die Hand. Der amerikanische Handelskapitän Thomas H. Sumner gilt als der Erfinder der Standlinie und begründete damit die grafischen Navigationsmethoden. Drei Jahrzehnte später gelang es dem französischen Fregattenkapitän Marcq Saint Hilaire, die Standlinienmethode entscheidend zu verbessern. Die Verbreitung der grafischen Methoden gilt als Wendepunkt in der Hochseenavigation sowie als Beginn der Ära der modernen Astronavigation, die erst mit der Einführung der Satellitennavigation ein Ende fand.

1.7 Thomas Sumner

Thomas Hubbard Sumner wurde 1807 als Sohn eines Architekten in Boston, Massachusetts geboren. Im Alter von 15 Jahren begann er ein Studium an der Harvard Universität, das er vier Jahre später abschloss. Im Jahr 1829 heuerte er als Seemann auf einem Handelsschiff auf der China Route an. Acht Jahre später war er Kapitän mit einem eigenen Schiff. Sumner hatte eine gute Ausbildung und verfügte über weitreichende Kenntnisse in Mathematik und Astronomie.

Am Morgen des 17. Dezember 1837 näherte sich Kapitän Sumner, er war schon 22 Tage von South Carolina kommend auf See, dem St. George Kanal zwischen Irland und Wales. Seine Reise ging nach Greenock in Schottland. Es stürmte und der Himmel war bedeckt. Er brauchte jetzt dringend Sicherheit darüber, dass ihn der Wind aus SSE nicht zu weit an die gefährlich flache und steinige Südostküste von Irland versetzt hatte. Etwa um 10:15 riss die Wolkendecke plötzlich auf und die Sonne wurde sichtbar. Dies reichte gerade für eine Messung des Kimmabstandes der Sonne.

Die Methoden zur Bestimmung der Mittagsbreite und der Chronometerlänge waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf vielen Seeschiffen gut etabliert. Eine Längenbestimmung zur Mittagszeit ist damit allerdings nicht möglich. Auf ihrer Kulminationshöhe beschreibt die Sonne einen sehr flachen Bogen und legt dabei mehr als 100 Meilen nach Westen zurück, ohne dass dabei eine Höhenänderung festgestellt werden kann. Wenn die Höhe der Sonne zwei Stunden vor oder nach dem Schiffsmittag gemessen wird, dann würde eine Längenberechnung auf Grundlage einer vorliegenden Breite nur einen kleinen Fehler verursachen.

Kapitän Sumner war sich dessen bewusst. Deshalb war es ein großes Glück, dass er die Höhe der Sonne noch zwei Stunden vor dem Schiffsmittag messen konnte. Er machte sich Sorgen um seine Position, weil ihn die starken Winde in Richtung der irischen Lee-Küste getrieben haben konnten. Sein Kurs war zu diesem Zeitpunkt Ost-Nordost und er hatte nur eine ältere Koppelposition.

Aus der gemessenen Höhe und der Koppelbreite konnte er jetzt eine Chronometerlänge und damit eine Position errechnen. Diese lag dann sogar östlich von seiner Koppelposition und somit weiter und sicherer von der irischen Küste entfernt. Als vorsichtiger Seefahrer wusste er allerdings auch, dass die so ermittelte Position einen erheblichen Fehler aufweisen konnte, denn die Breite, die seiner Berechnung zugrunde lag, war nur gekoppelt und somit geschätzt und konnte falsch sein. Also versuchte er herauszufinden, was die Konsequenzen dieses Fehlers wären.

Bild 1.7: Karte aus dem Buch von Sumner, in dem er die Entdeckung der Standlinie beschrieb.

Unter Verwendung derselben gemessenen Höhe und einer Breite, die diesmal zehn Meilen weiter nördlich und damit noch näher an der gefährlichen Lee-Küste Irlands lag, rechnete er ein zweites Mal. Dabei fand er jedoch eine Position, die unerwartet noch weiter östlich lag als die vorherige. Eine dritte Berechnung mit einer angenommenen Breite, die um weitere zehn Meilen nördlicher lag, ergab dann eine dritte Länge, die sich ebenfalls noch weiter östlich als die beiden vorherigen befand. Mit diesen Ergebnissen widmete sich Sumner seiner Karte und sah, dass sich alle drei errechneten Positionen auf einer geraden Linie befanden. Diese Linie ist auf der Karte im Bild 1.7 zu sehen.

Da wurde ihm klar, dass diese Linie ein kleines Stück der Kreislinie einer Höhengleiche ist. Höhengleichen bzw. Höhenkreise waren ihm bekannt. Man fand sie auch schon auf uralten Astrolabien. Eine Senkrechte durch die Mitte dieser Linie musste das Azimut zur Sonne sein. Jeder Beobachter auf dieser Linie hätte die Sonne zur selben Zeit in derselben Höhe beobachten können und sein Schiff befand sich irgendwo auf dieser Linie.

Es war einer dieser ungewöhnlichen Zufälle in der Geschichte. Die erhaltene Linie war nicht nur fast mit seiner Kurslinie identisch, sondern lief auch direkt auf den Leuchtturm „Small’s Rocks“ zu. Das ist ein wichtiges Seezeichen vor der Westküste von Wales. Kapitän Sumner entschloss sich dazu, den Kurs entlang der entdeckten Linie beizubehalten, auf der früher oder später der Leuchtturm „Small’s Rocks“ gesichtet werden würde. Einige Zeit später wurde der Leuchtturm trotz des dichten Wetters entdeckt und die Reise konnte dann sicher entlang der Westküste Englands fortgesetzt werden.

Bild 1.8: Konstruktion einer Sumnerlinie. Deklinationsbreite 𝛿, Sonnenbildpunkt X, Radius s und der Höhenkreis passen natürlich auf keine Seekarte im üblichen Maßstab. Die Darstellung dieser Elemente dient hier nur zur besseren Illustrierung.

Dies war neu. Bild 1.8 zeigt das Geschehen schematisch. Nach nur einer einzigen Beobachtung eines Gestirns werden zwei Breiten 𝜑1 und 𝜑2 gewählt, für die dann die Längen 𝜆1 und 𝜆2 für dieselbe Beobachtung, also mit den gleichen Werten von 𝛿 und h, berechnet werden. Das funktioniert auf die gleiche Weise, wie sie in 1.4 zur Berechnung der Chronometerlänge beschrieben worden ist, und war den Seeleuten längst bekannt. Abweichend davon wird keine Koppelbreite verwendet, sondern zwei Breiten, von denen die eine ein Stück nördlich und die andere ein Stück südlich von der Koppelbreite vermutet werden.

Das lieferte zwei Punkte auf einer Karte und wenn man diese miteinander verband, so hatte man eine Linie, auf der sich das Schiff befinden musste, eine Standlinie, die im Bild mit SL gekennzeichnet ist.

Sumner erkannte, dass seine Standlinie nur ein kurzer Abschnitt der Kreislinie eines Höhenkreises ist und dass er mit seinen Berechnungen eine dicht an der Peripherie liegende Sekante an den Höhenkreis konstruiert hatte.

Diese konnte man auch verlängern und dann auf der Karte sehen, wo sie hinführte. So konnten von einer Standlinie Kurse abgeleitet werden, die parallel und sicher an einer unsichtbaren Küste entlangführten oder sogar direkt auf Land und damit einen Zielhafen ansteuerten. Außerdem konnten an einem Tag zwei Standlinien bestimmt werden, wenn man die Höhe der Sonne einmal vormittags und später am Nachmittag festlegte. Möglich waren auch zwei Vormittags- oder zwei Nachmittagsmessungen. Der eigene Standort muss dann im Sinne einer Kreuzpeilung dort sein, wo sich die Standlinien kreuzten. Sumner verfasste ein Buch, das 1843 unter dem folgenden Titel erschien:

“A NEW METHOD OF FINDING A SHIP’S POSITION AT SEA“

Seine Methode war sehr gut nachvollziehbar und wurde von den Seefahrern sofort angenommen. Mit den auszuführenden Berechnungen waren sie längst vertraut. Somit war jetzt erstmalig eine Möglichkeit gefunden, unabhängig vom Schiffsmittag, zu beliebigen Zeiten auf See ohne Landsicht und mit einfachen Mitteln einen Standort zu finden.

Eine Besonderheit bei der Navigation mit der Sonne besteht darin, dass die zwei Höhen in einem Zeitabstand von mehreren Stunden gemessen werden müssen. Die dabei entstehende Ortsveränderung muss natürlich berücksichtigt werden. In seinem Buch gab Sumner auch darauf eine Antwort. Darin bezeichnete er mit AA’ die erste und mit BB’ die zweite Standlinie. Das Zitat lautet:

„Wenn das Schiff seine Position geändert hat, dann setze die zwischen den Beobachtungen gesegelte Entfernung in Kursrichtung von einem beliebigen Punkt der Linie AA‘ ab. Zeichne durch diesen Zielpunkt eine gerade Linie parallel zur Linie AA‘ bis diese sich mit der Linie BB‘ schneidet. Dieser neue Schnittpunkt mit BB‘ ist die Schiffsposition zum Zeitpunkt der zweiten Beobachtung.“

In den USA widmete man der Sumner’schen Methode eine geradezu offizielle Aufmerksamkeit. Das nautische Institut zu Boston ernannte ein Komitee zur Prüfung der Methode, das zu dem Ergebnis kam, dass sie auf vollkommen richtigen Grundsätzen basiert. Man sah schon damals in diesem Verfahren den Beginn einer neuen Ära in der praktischen Navigation. Dies hatte auch nochmal eine Steigerung der Chronometerproduktion zur Folge. In der US-Marine wurde der Befehl erteilt, jedes Schiff so auszustatten, dass mit der Sumner’schen Methode navigiert werden konnte. Im Jahre 1844 gelangte diese nach England und von dort in die englischen Kolonien im Pazifik und im Orient. Nur in Frankreich wurde die Methode erst einige Jahre später benutzt.

1.8 Marcq Saint Hilaire

Die Entdeckung von Sumner verbreitete sich schnell, denn seine Methode wurde gut verstanden. Die Berechnungen waren bereits zur Routine geworden, da sie mit der Ermittlung der Chronometerlänge identisch waren. Als nachteilig wurden nur die unvermeidlichen Standortabweichungen empfunden. Diese sind eine Folge der in der Grafik im Bild 1.8 sichtbaren Erhebung des Höhenkreises über den linearen Sehnenabschnitt der Standlinie hinaus. Die Ursache dafür ist die große Differenz von einem ganzen Grad zwischen den zu schätzenden Breiten. Sie ist aber nötig, damit die Standlinie, die Verbindungslinie zwischen den Schnittpunkten und darüber hinaus, im richtigen Winkel eingezeichnet werden kann. Je dichter diese Punkte zusammenliegen würden – es sind schließlich Bleistiftpunkte –, desto spekulativer wird es, mit einem Lineal den richtigen Winkel zwischen ihnen zu treffen. Deshalb wäre es optimal, wenn die Standlinie als Tangente an den Höhenkreis konstruiert werden könnte.

Dies gelang im Jahre 1875 dem französischen Fregattenkapitän Saint Hilaire. Seine Methode soll nun unter Zuhilfenahme von Bild 1.9 erläutert werden.

Bild 1.9: Konstruktion einer Standlinie nach Saint Hilaire.

Eine Tangente an einem Kreis steht in ihrem Berührungspunkt immer senkrecht zum Radius. Im Bild ist der Radius ein Abschnitt des Azimutstrahls Az und die senkrecht dazu stehende Tangente ist folglich die Standlinie SL.

Eine Standlinie wird nun folgendermaßen gefunden: Zunächst wird der Kimmabstand der Sonne festgestellt. Dabei ist es wichtig, den Zeitpunkt festzuhalten, in dem die Sonne im Fernrohr des Sextanten den Horizont berührt. Der am Sextanten abgelesene Höhenwinkel muss vor seiner weiteren Verwendung allerdings noch berichtigt werden. Aus dem Datum und der festgestellten Zeit werden jetzt die Deklination und der Greenwicher Ortsstundenwinkel GHA ermittelt. Dazu dienten damals ein Almanach und eine Zeitgleichungstabelle, während man heute ein Nautisches Jahrbuch verwenden würde.

Ein wahrhaftiger Dreh- und Angelpunkt der Hilaire-Konstruktion ist der sogenannte Gissort. Das ist ein zu schätzender Ort in der Nähe. Früher wurde dazu die DR-Position (DR = Dead Reckoning), also der Koppelort benutzt. Später wurde dazu übergegangen, die wahrscheinlich nächstgelegene Kreuzung eines ganzgradigen Längengrades mit einem ganzgradigen Breitengrad zu wählen. Mit dem Koppelort folgt nun der rechnerische Teil. Für den Gissort sind Höhe und Azimut zu berechnen – und zwar für die Zeit der Sextantenmessung auf dem Schiff.

Dazu sind zwei Formeln nötig, die wohl als die wichtigsten und am häufigsten gebrauchten in der Navigationsgeschichte der vergangenen 150 Jahre gelten. Deshalb werden sie an dieser Stelle auch gezeigt, ohne dass zunächst näher darauf eingegangen wird. Die Formeln lauten:

Höhenformel:

    \[h_c=\sin^{-1}\big(\sin\varphi\,\sin\delta+\cos\varphi\,\cos\delta\,\cos t\big)\]

Azimutformel:

    \[z*=\cos^{-1}\frac{\sin\delta-\sin\varphi\,\sin h_c}{\cos\varphi\,\cos h_c}\]

Mit der ersten Formel wird die Höhe der Sonne am Gissort berechnet. Der Index c besagt dabei, dass es eine berechnete (c = calculated) Höhe ist. Die Variable t ist der Ortsstundenwinkel des Gissortes. Dieser wird meist auch als LHA (Local Hour Angle) bezeichnet. Der LHA ist, wie Bild 1.10 zeigt, die Summe von GHA (dt. Grt) und dem Längengrad des zu betrachtenden Ortes, hier des Gissortes. Allgemein gesagt ist der LHA nichts weiter als die Längengrad-Entfernung eines benannten Ortes bis zum Bildpunkt der Sonne und zwar in westliche Richtung zählend.

Bild 1.10: Der LHA eines Ortes, oft auch als t bezeichnet, ist die Summe von GHA und dem Längengrad des zu betrachtenden Ortes. Westgrade besitzen ein negatives Vorzeichen. Der LHA wird nur westwärts gezählt.

Bei der Berechnung des Azimuts ist noch eine Besonderheit zu berücksichtigen. Das mit der Formel angegebene Azimut gilt nur für Vormittagsmessungen, wenn die Sonne noch im Osten beobachtet werden kann. Sobald die Sonne die eigene Position überholt hat, was am Schiffsmittag geschieht, muss das mit der Formel berechnete Azimut von 360° subtrahiert werden und ist dann erst das richtige Azimut. Daraus erklärt sich die Kennzeichnung des Formelazimuts mit dem Sternchen.

Nach diesen ganzen Vorbereitungen kann die Standlinie direkt in der Seekarte konstruiert werden. Zur Schonung des Kartenmaterials wurden hier meistens sogenannte Leerkarten benutzt. Diese mussten dann für die geschätzte Breite immer erst angefertigt werden.

Man beginnt die Konstruktion mit einem kleinen Kreis oder Kreuz an der Position des Gissortes und zeichnet dann durch diese Markierung eine Linie im Winkel des ausgerechneten Azimuts. Zwischen der vom Schiff aus beobachteten Höhe und der mit der Höhenformel für den Gissort berechneten Höhe ist jetzt die Differenz 𝛥h = (hm – hc) zu bilden. Diese Differenz in Bogenminuten ist eine Wegspanne in Seemeilen, die vom Gissort ausgehend auf dem Azimutstrahl abgetragen werden muss. Dem Vorzeichen dieser Differenz, die auch als Intercept bezeichnet wird, sollte eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wenn hm größer als hc ist, dann war das Schiff beim Messen dichter an der Sonne als der Gissort und das Intercept ist in Richtung Sonne abzutragen. Das ist im Bild 1.9 der Fall. Bei einem negativen Intercept muss der Radius des Höhenkreises um diesen Betrag vergrößert werden und die Strecke ist vom Gissort ausgehend und von der Sonne weg abzutragen. Dort, wo das Intercept endet, wird nun eine Linie senkrecht zum Azimutstrahl eingezeichnet, denn das ist die gesuchte Standlinie SL. In seiner englischen Publikation fasste Hilaire diese Konstruktionsweise in einem Satz zusammen:

„In summary, to calculate an observation, make the calculation of the altitude and the azimuth of the star for the DR Position and the time of observation, add or subtract the estimated altitude from the observed altitude, consider this difference as a path given by the calculated azimuth and correct the DR Position along this path.“

Entsprechend einer Kreuzpeilung liefern zwei Hilaire-Standlinien in ihrem Kreuzungspunkt den Standort. Möglich sind auch mehrere Standlinien, die dann jedoch von Planeten oder Fixsternen abgeleitet werden sollten und dann keinen Kreuzungspunkt, sondern ein kleines unregelmäßiges Polygon bilden. Der Standort ist in dem Fall ein einzuschätzender Mittelpunkt dieses Polygons.

Wenn die Sonne der benutzte Navigationsstern ist, dann muss zwischen zwei Beobachtungen ausreichend viel Zeit verstreichen, damit sich die Standlinien in einem genügend großen Winkel von mehr als 30° schneiden. Eine Ortsverändung in dieser Zeit ist eine sogenannte Versegelung. Damit diese berücksichtigt wird, muss die erstgemessene Standlinie entsprechend dem gefahrenen Kurs und der zurückgelegten Distanz parallel verschoben werden, so wie es Sumner bereits formuliert hatte.

Die Methode gerät an ihre Grenzen, wenn Höhen von größer als 80°, manche Autoren geben als Grenze bereits 70° an, weil die Durchmesser der Höhenkreise bei großen Höhen zu klein und deren Krümmung zu groß wird. Wenn Gissort, Standort und Bildpunkt in dem Fall nicht genau auf einer Linie liegen, sind größere Standortabweichungen unvermeidbar. Kritisch sind auch allzu große Differenzen zwischen gemessener und berechneter Höhe. Sollte diese Differenz, das Intercept, größer als 50’ bzw. 50 NM sein, wäre diese Standlinie zu verwerfen.

1.8.1 Die Tafelmethode

In der Hilaire-Methode werden für jede Beobachtung nur zwei trigonometrische Formeln zur Berechnung von Höhe und Azimut des Gissortes gebraucht und sonst nur Additionen und Subtraktionen.

So entstand die Idee, Azimut und Höhe für möglichst viele Orte auf der Erde im voraus auszurechnen und in Tafeln zur Verfügung zu stellen. Als Orte wurden die ganzgradigen Kreuzungen von Längengraden mit Breitengraden benutzt. Nicht zuletzt durch die aufkommende Fliegerei entstand die Notwendigkeit, den Rechenaufwand mit den umständlichen Logarithmen zu vermeiden um die Rechenzeit zu reduzieren.

Die ersten Tafelwerke gab es schon 1902. Anfangs wurde nur das Azimut tabelliert. Die Höhe wurde erst in späteren Ausgaben berücksichtigt. Bekannt sind vor allem die „SIGHT REDUCTION TABLES“ des amerikanischen U.S. Hydrographic Office. Deren erste Tafel erschien 1919 unter der Bezeichnung H.O. 201. Besonders die Luftfahrt brauchte diese Tafeln zur schnellen Ortsbestimmung mit einem Sextanten und einem künstlichen Horizont.

Fast schon legendär sind die HO 249 Tafeln geworden, die später von der Nachfolgeorganisation des U.S. Hydrographic Office, dem „Naval Oceanographic Office“ als PUB. NO. 249 herausgegeben wurden. Einige der heute noch aktuellen Tafeln sind bereits im Zweiten Weltkrieg entwickelt worden, speziell zur Verwendung in den US-Air Forces, damit die Bomber ihren Weg sicher über die Ozeane finden konnten. Bis heute nutzen auch einige Fahrtensegler diese Tafeln als Hobby-Navigationssystem oder als Back-up für einen möglichen Notfall, falls die vollelektronische Navigation ausfällt.

Bild 1.11: Die Cover der drei Bände der PUB. NO. 249

Die PUB. NO. 249 besteht aus drei Bänden. wobei der erste Band die Fixsterne erfasst und alle fünf Jahre neu aufgelegt werden muss, weil die Fixsterne eben doch nicht so fix sind. Band 2 und 3 erfassen die Breiten von 0° bis 40° sowie 39° bis 89° und sie gelten immer.
Daneben existiert die PUB. NO. 229, die für die Seefahrt erarbeitet wurde. Diese Tafel steht in sechs Bänden in Größe jeweils eines Telefonbuches zur Verfügung. Die Auflösung ist bei diesen Tafeln größer, was mehr Papier erforderlich gemacht hat. Da auch immer noch ein „Nautical Almanac“ hinzukam, war dies eher etwas für die Großschifffahrt als für die Verwendung auf den engeren Segelyachten.

Bemerkenswert ist, dass der Vertrieb der Tafeln lange Zeit ausgesetzt war. Fahrtensegler und Interessenten konnten sich diese nur noch aus dem Internet als PDF herunterladen. Der Band 1, der nach fünf Jahren sowieso ungültig wird, weil Fixsterne nicht fix sind, war schon lange nur noch Makulatur. Doch inzwischen werden alle Bände wieder gedruckt und als Bücher verlegt. Auch der Inhalt von Band 1 ist neu erstellt und erscheint nun wieder alle fünf Jahre. Es scheint fast so, als hätten die Herausgeber die Bedeutung der Astronavigation wiederentdeckt.

1.9 Künstliche Himmelskörper

Als die Satellitennavigation 1996 offiziell ihren Betrieb aufnahm, kam dies einer Revolution gleich. Positionen konnten sehr schnell mit größter Leichtigkeit und exakt gefunden werden. Schon bald verfügte jedes Auto über ein Straßennavigationssystem. Container erhielten GPS-Tracker, damit ihr Standort weltweit verfolgt werden konnte, und selbst Spielzeuge wie kleine Drohnen wurden mit GPS-Ortungssystemen ausgestattet, damit sie ihren Weg zurück zum Startplatz finden konnten.

Der Betreiber des ersten Satellitennavigationssystems GPS (Global Position System) war das amerikanische Militär. Es nutzte nicht nur Schiffen und Flugzeugen bei der Navigation, auch Raketen und Marschflugkörper konnten damit präzise auf ein Ziel gelenkt werden. Die zivile Nutzung ist bei alledem nur ein Nebeneffekt. 
Aufgrund des militärischen Gebrauchs durch die Amerikaner musste Russland sein eigenes System GLONASS errichten und die Europäer folgten mit Galileo. Zurzeit existieren also drei unabhängige Systeme, die auch die zivile Nutzung sicherer machen sollen. Inzwischen blickt man auf drei Jahrzehnte eines überwiegend störungsfreien friedlichen Betriebes zurück. Doch wie sicher sind diese von Menschen geschaffenen Systeme wirklich, wenn ihre Präzision und Funktion von den Betreibern jederzeit beeinflusst werden kann und in einem Konfliktfall auch den Angriffen eines Feindes ausgesetzt sein könnte?

Ende der neunziger Jahre setzte die Marineakademie in den USA den Unterricht in astronomischer Navigation aus. Man sah zu diesem Zeitpunkt keine Gefahren. Doch ein Jahrzehnt später wurden Betriebseigenschaften und Schwachstellen des Systems entdeckt, die es unter bestimmten Bedingungen unzuverlässig oder sogar unbrauchbar machen könnten. So hat ein Satellit nur eine bestimmte Lebensdauer, nach der seine Signalstärke abnimmt. Die Gefahr, dass alternde Satelliten aus Kostengründen nicht schnell genug ersetzt werden könnten, wurde sehr real. Die schwachen Funksignale der Satelliten könnten auch durch Feindeinwirkungen, Cyberangriffe oder einen Sonnensturm gestört, beeinflusst oder sogar unbrauchbar werden. Sonnenstürme können sich auf die Steuerung eines Satelliten auswirken und ihn dadurch sogar zum Absturz bringen. Eine neue Gefahr stellt auch die anwachsende Menge an Weltraumschrott dar, der durchaus das Potenzial besitzt, Navigationssatelliten zerstören zu können.

Aufgrund dieser Überlegungen machte sich die Sorge breit, dass durch die wachsende Abhängigkeit von der vollelektronischen Navigation die Kompetenz in der astronomischen Navigation gänzlich verloren geht. Die Konsequenz bestand darin, dass im Jahr 2015 wieder die Ausbildung in astronomischer Navigation an der Marineakademie in den USA eingeführt wurde. Dahingegen hat die US-Handelsmarine die klassische Navigation mit dem Sextanten als Notfallsystem auf ihren Schiffen nie aufgegeben.

Obwohl all diese Gefahren immer wieder zitiert werden, wird Astronavigation als Notfalloption gerne verdrängt oder nicht ernst genommen. Irgendwie ist es auch schwer vorstellbar, dass Flugzeugträger heutzutage mit einem Sextanten navigieren müssten, so wie im Zweiten Weltkrieg. Doch auf einer Yacht kann schon ein simpler Stromausfall die Satellitennavigation außer Gefecht setzen und ohne Papierseekarten an Bord ist auch ein Standort, den ein Smartphone angibt, ziemlich nutzlos.

1.10 Astronavigation heute

Das dominierende Navigationssystem ist die Satellitennavigation. Darüber hinaus spielt Astronavigation weiterhin eine Rolle als Notfallnavigation oder auch als Hobby all jener, die ihren Weg gerne mithilfe der Natur und dem Sextanten finden wollen. Gerade für Segler auf langen Fahrten bietet sich das an. Ein weiterer Aspekt ist die Bewahrung der Seefahrertradition, denn auch Segeln ist eine traditionelle Art des Reisens auf dem Wasser und da passt es geradezu, wenn der Skipper seinen Weg noch wie die alten Seefahrer mit dem Sextanten finden kann.

Viele Flaggenstaaten haben die Ausrüstungspflicht von Berufsschiffen auf großer Fahrt mit einem Sextanten abgeschafft. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Redundanz in Form eines völlig unabhängigen vollelektronischen Zweitsystems. Auf unzähligen Yachten und kleineren Schiffen kann dies jedoch nicht gewährleistet sein. Sextant, Nautisches Jahrbuch und Kenntnisse in der Navigation sind deshalb als Back-up weiterhin unverzichtbar. Mit dem Entfall der Ausrüstungspflicht hat auch das BSH (Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie) den Vertrieb des Nautischen Jahrbuchs im Jahr 2020 eingestellt und weiterhin Bedürftige auf international verfügbare Almanacs verwiesen.

Es gibt allerdings auch andere Reaktionen von Behörden. So hat Neuseeland im Dezember 2019 das Mitführen eines Sextanten und Chronometers auf seegehenden Booten mit einer Länge über sechs Meter gesetzlich vorgeschrieben. Doch wenn ein Skipper damit nichts anfangen kann, bringt dies in Sachen Sicherheit nichts. Vor allem Fahrtensegler sollten deshalb im Sinne der eigenen Sicherheit ein Navigations-Back-up an Bord mitführen.

Allgemein ist Astronavigation sehr unbeliebt. Der Hauptgrund liegt sicher darin, dass die Verantwortlichen zwar den ehrenwerten Gedanken hatten, neben der Satellitennavigation ein Notfallsystem behalten zu wollen, dabei aber übersehen haben, dass man im Computerzeitalter angekommen war. Dessen ungeachtet wurde für die Anwendung der astronomischen Navigation die Benutzung der Werkzeuge aus den letzten Jahrhunderten vorgeschrieben.

Wenn astronomische Navigation als Rückfallmethode erhalten bleiben soll, dann muss sie verwendungsfähig gemacht werden. Verwendungsfähig hört sich erst einmal komisch an, denn sie war schließlich ein ganzes Jahrhundert lang das auf allen Seeschiffen ausschließlich verwendete Navigationsverfahren. Nur die Kompetenz, in der bisherigen Weise damit umzugehen, ist in der heutigen Seefahrergeneration nicht mehr vorhanden. Sie kann auch nicht wiederhergestellt werden. Damit Astronavigation wieder verwendungsfähig wird, muss sie so einfach wie Satellitennavigation sein, abgesehen natürlich von der zusätzlichen Benutzung eines Sextanten. Ohne Frage würde dies der Sicherheit auf See zugutekommen.

Wie das gelingen soll, wurde von offizieller Seite noch nicht vermittelt. Zwar gibt es zahlreiche Anwendungen, die dabei helfen, wenn mit einem Sextanten navigiert werden müsste. Man findet entsprechende Apps im Internet und in den Stores von Apple oder Google. Dies sind allerdings nur Rechenhilfen, die einem Navigator das Finden von Standlinien ohne Benutzung von Formeln ermöglichen. Wer jedoch nur wenige oder gar keine Kenntnisse über die Verwendung von Standlinien besitzt, dem ist damit nicht geholfen. Die Erfindung der Standlinien von Sumner und Hilaire war damals ein Notbehelf, der mit der Verbreitung des Computers eigentlich obsolet sein müsste. Die Entwickler der Satellitennavigation wussten das besser und haben es gleich richtig gemacht.

Was mit künstlichen Himmelskörpern funktioniert, muss auch mit natürlichen Himmelskörpern umsetzbar sein, also ohne vorherige Standortschätzung und ohne Standlinienkonstruktionen. Leider sind die dazu erforderlichen Algorithmen in der nautischen Literatur der letzten Jahrzehnte nie diskutiert worden und deshalb teilweise gar nicht mehr bekannt. Die gängige Praxis des letzten Jahrhunderts hat sie als „alte“ Verfahren einfach verdrängt. Sie sind jedoch Voraussetzung für eine neue Art der astronomischen Navigation und bilden deshalb das Thema in den folgenden Kapiteln. Zunächst wird jedoch eine App vorgestellt, die auf der Grundlage einer völlig verdrängten Methode arbeitet, die von Carl Friedrich Gauß im Jahre 1808 entwickelt wurde, also schon 67 Jahre vor Saint Hilaire. Es ist die erste computergestützte Anwendung einer astronomischen Standortbestimmung und Navigation, mit der ein Standort als Schiffsymbol auf einer elektronischen Karte angezeigt wird. Ein Anwender muss keinerlei Kenntnisse in Mathematik oder Astronomie aufweisen.

Im Mittelpunkt aller Beschreibungen steht die Sonne. Der Grund dafür ist, dass Spezialkenntnisse ausgeschlossen sein müssen, wenn die App einen möglichst breiten Zugang finden soll. Grundsätzlich kann allein mit der Sonne navigiert werden. Etwa 90 % aller Beobachtungen, auch in der Vergangenheit, waren Sonnenbeobachtungen. Im Prinzip ist es natürlich möglich, diese neue Art der astronomischen Navigation auch auf den Mond, die Planeten und Fixsterne zu erweitern. Denkbar wäre auch die Nutzung in Verbindung mit einem üblichen Kartenplotter. Die Erweiterung eines derartigen Gerätes, das an Bord fast aller Segelyachten genutzt wird, wäre mit einem zusätzlichen Softwaremodul erledigt. Damit könnte jeder Kartenplotter nach einem Update auf eine Sextanten-Navigation umgestellt werden. Die Programmierung eines entsprechenden Astro-Moduls ist nicht mal kompliziert. Es wäre allerdings eine Aufgabe für die Industrie.